GVO Spezialisierungsvereinbarungen
Die GVO SpezV stellt folgende Vereinbarungen zwischen zwei oder mehreren Unternehmern vom Anwendungsbereich des Art 81 Abs 1 EGV/ Art 101 AEUV frei:
Freistellung
- Eine Vertragspartei verpflichtet sich, die Produktion bestimmter Produkte einzustellen oder von deren Produktion abzusehen und die betreffenden Produkte von einem konkurrierenden Unternehmen zu beziehen, welche sich seinerseits zur Produktion und Lieferung dieses Produktes verpflichtet ("einseitige Spezialisierung");
- Zwei oder mehrere Vertragsparteien verpflichten sich gegenseitig, die Produktion bestimmter, aber unterschiedlicher Produkte einzustellen oder von deren Produktion abzusehen und die betreffenden Produkte von den übrigen Vertragsparteien zu beziehen, welche sich ihrerseits zur Lieferung verpflichten ("gegenseitige Spezialisierung");
- Zwei oder mehrere Vertragsparteien verpflichten sich, bestimmte Produkte gemeinsam zu produzieren ("gemeinsame Produktion").
Im Zusammenhang mit der einseitigen oder der gegenseitigen Spezialisierung ist eine (ausschließliche) Liefer- und Bezugsverpflichtung der beteiligten Unternehmen erforderlich. Durch diese Regelung soll gemäß Erwägungsgrund 12 GVO SpezV insbesondere vermieden werden, dass sich ein beteiligtes Unternehmen aus einem der Produktion nachgelagerten Markt zurückzieht.
Marktanteilsschwellen
Die Freistellung gilt nur unter der Voraussetzung, dass die Summe der Marktanteile der beteiligten Unternehmen im sachlich und räumlich relevanten Markt 20 % nicht überschreitet. Unterhalb dieser Schwelle sind alle Vereinbarungen freigestellt (soweit sie nicht "Kernbeschränkungen" enthalten). Bei der Ermittlung des Marktanteils ist gemäß Art 6 GVO SpezV auf die Absatzwerte für die betroffenen Produkte im jeweils vorangegangenen Kalenderjahr abzustellen. Dazu ist insbesondere auf die Bekanntmachung der Kommission vom 9.12.1997 zu verweisen, wonach es bei der Bestimmung des relevanten Marktes auf die Substituierbarkeit von Produkten und dabei insbesondere auf die Sicht des Endabnehmers ankommt. Liegt der Marktanteil zunächst unter der Schwelle von 20 % und überschreitet er diese in der Folge in einem Kalenderjahr, bleibt die Freistellung je nach Ausmaß der Überschreitung für ein bis zwei weitere Kalenderjahre aufrecht.
Kernbeschränkungen
Art 5 GVO SpezV enthält besonders eklatante Bestimmungen, die in Vereinbarungen nicht enthalten sein dürfen. Ist eine Kernbeschränkung dennoch enthalten, so entfällt die Freistellung für die gesamte Vereinbarung. Kernbeschränkungen sind insbesondere
(1) Vereinbarungen betreffend die Festsetzung von Preisen für den Verkauf der Produkte an dritte Abnehmer,
(2) die Beschränkung der Produktion oder des Absatzes sowie
(3) die Aufteilung von Märkten oder Abnehmerkreisen.
Gemäß Art 5 Abs 2 GVO SpezV sind jedoch Bestimmungen über (1) die vereinbarte Menge an Produkten und Vereinbarungen über die einseitige oder gegenseitige Spezialisierung, (2) die Festlegung des Umfangs der Kapazität und Produktion eines gemeinsamen Produktionsunternehmens bei gemeinsamer Produktion sowie (3) die Festsetzung von Absatzzielen und der Preise, die ein gemeinsames Produktionsunternehmen seinen unmittelbaren Abnehmern in Rechnung stellt, zulässig.
Spezialisierungsvereinbarungen nach der Gruppenfreistellungsverordnung (GVO 1218/2010)
Spezialisierungsvereinbarungen sind ein Instrument zur Effizienzsteigerung zwischen Unternehmen, die sich auf unterschiedliche Produktionsbereiche spezialisieren oder Produktionsprozesse gemeinsam nutzen. Da solche Vereinbarungen potenziell den Wettbewerb einschränken können, unterliegen sie dem Kartellverbot nach Artikel 101 Abs. 1 AEUV. Allerdings erlaubt die Spezialisierungs-GVO (1218/2010) unter bestimmten Voraussetzungen eine Freistellung von diesem Verbot.
1. Was sind Spezialisierungsvereinbarungen?
Spezialisierungsvereinbarungen sind Absprachen zwischen zwei oder mehr Unternehmen, die darauf abzielen, Produktionskosten zu senken, Skaleneffekte zu erzielen oder Forschung und Entwicklung zu fördern. Sie können auf verschiedene Weise gestaltet sein:
Einseitige Spezialisierung
- Ein Unternehmen stellt die Produktion eines Produkts oder einer Komponente ein und bezieht es stattdessen vom Partnerunternehmen.
- Beispiel: Ein Automobilhersteller gibt die Produktion von Getrieben auf und bezieht sie von einem spezialisierten Zulieferer.
Gegenseitige Spezialisierung
- Zwei Unternehmen teilen sich die Produktion verschiedener Güter und kaufen wechselseitig voneinander ein.
- Beispiel: Ein Hersteller konzentriert sich auf die Produktion von Elektromotoren, während der andere auf Verbrennungsmotoren setzt.
Gemeinsame Produktion
- Unternehmen bündeln ihre Ressourcen zur gemeinsamen Herstellung eines Produkts.
- Beispiel: Zwei Pharmaunternehmen betreiben eine gemeinsame Produktionsstätte für Impfstoffe, nutzen aber separate Vertriebswege.
2. Rechtliche Rahmenbedingungen der Spezialisierungs-GVO (1218/2010)
2.1. Voraussetzungen für die Freistellung
Damit eine Spezialisierungsvereinbarung von der Gruppenfreistellung erfasst wird, müssen folgende Bedingungen erfüllt sein:
Maximaler gemeinsamer Marktanteil
- Die beteiligten Unternehmen dürfen zusammen nicht mehr als 20 % Marktanteil auf dem relevanten Markt haben.
- Liegt der Marktanteil darüber, ist eine Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV erforderlich.
Effizienzgewinne
- Die Kooperation muss Effizienzvorteile bieten, z. B. durch niedrigere Produktionskosten oder bessere Ressourcennutzung.
Kein Verstoß gegen Hardcore-Beschränkungen
- Unzulässig sind:
- Preisabsprachen
- Marktaufteilungen nach Gebieten oder Kunden
- Output-Beschränkungen
Kein Ausschluss des Wettbewerbs
- Die Vereinbarung darf keine marktabschottenden Effekte haben oder bestehende Konkurrenten verdrängen.
3. Beispiele für Spezialisierungsvereinbarungen
3.1. Zulässige Fälle
Automobilindustrie – Spezialisierung auf Antriebe
Ein Automobilhersteller A spezialisiert sich auf Verbrennungsmotoren, während Hersteller B Elektromotoren entwickelt.
- Vorteil: Beide Unternehmen können sich auf ihre Kernkompetenzen fokussieren, die Entwicklungskosten reduzieren und ihre Forschung effizienter gestalten.
- Wettbewerb bleibt erhalten, da andere Marktteilnehmer ebenfalls Antriebssysteme entwickeln.
Pharmaindustrie – Gemeinsame Wirkstoffproduktion
Zwei Pharmaunternehmen betreiben gemeinsam eine Produktionsstätte für einen Impfstoff, verkaufen das Produkt aber getrennt mit eigenen Marken.
- Vorteil: Skaleneffekte und geteilte Investitionen in Produktionskapazitäten.
- Zulässig, weil keine Preisabsprache oder Marktaufteilung vorliegt.
Luftfahrt – Zulieferkooperation
Ein Flugzeughersteller schließt eine Vereinbarung mit einem Zulieferer, der sich auf die Produktion von Triebwerken spezialisiert.
- Vorteil: Vermeidung von Doppelstrukturen und Kostenreduktion durch Spezialisierung.
- Unproblematisch, solange alternative Zulieferer existieren.
3.2. Kartellrechtswidrige Fälle
Preisabsprachen durch Spezialisierung
Zwei Hersteller vereinbaren, dass nur einer von ihnen ein bestimmtes Produkt herstellt und dabei künstlich hohe Preise festgelegt werden.
- Verstoß gegen das Kartellverbot, da eine wettbewerbswidrige Preisabsprache vorliegt.
Wettbewerbsausschaltung durch Marktaufteilung
Zwei Chemieunternehmen vereinbaren, dass eines nur in Deutschland und das andere nur in Frankreich verkauft.
- Unzulässig, da die Marktaufteilung den Wettbewerb ausschaltet.
4. Wichtige Rechtsprechung zu Spezialisierungsvereinbarungen
4.1. EuGH, Rs. 161/86 – Pronuptia de Paris
- Sachverhalt: Vereinbarung zwischen einem Brautmodenhersteller und seinen Händlern über Spezialisierung auf bestimmte Kollektionen.
- Ergebnis: Zulässig, da Effizienzgewinne nachweisbar waren und keine wettbewerbswidrige Marktaufteilung erfolgte.
4.2. EuGH, C-209/10 – Post Danmark
- Sachverhalt: Wettbewerbsausschaltung durch marktbeherrschende Spezialisierung auf bestimmte Dienstleistungen.
- Ergebnis: Kartellrechtswidrig, da der Wettbewerb durch eine einseitige Marktverdrängung verzerrt wurde.
4.3. EU-Kommission – Kfz-GVO 461/2010
- Sachverhalt: Spezialisierung in der Automobilbranche im Vertrieb und Aftermarket-Service.
- Ergebnis: Zulässig, solange keine Preisbindungen oder Marktaufteilungen erfolgen.
5. Was können Kartellrechtler tun?
5.1. Beratung und Compliance-Prüfung
- Analyse, ob eine Spezialisierungsvereinbarung unter die Gruppenfreistellung fällt oder eine Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV erforderlich ist.
- Prüfung, ob Effizienzgewinne nachweisbar sind.
- Schulungen für Unternehmen zur Vermeidung kartellrechtlicher Verstöße.
5.2. Anmeldung und Freistellungsanträge
- Beantragung einer Einzelfreistellung, wenn der Marktanteil über 20 % liegt.
- Kommunikation mit der Europäischen Kommission oder nationalen Kartellbehörden.
5.3. Vertretung in Kartellverfahren
- Verteidigung von Unternehmen in Kartellverfahren bei der EU-Kommission oder dem Bundeskartellamt.
- Unterstützung bei Kronzeugenregelungen (Leniency-Anträge) zur Minderung von Bußgeldern.
5.4. Schadensersatzklagen und Litigation
- Unterstützung von Unternehmen, die durch kartellrechtswidrige Spezialisierungsvereinbarungen geschädigt wurden.
- Prozessvertretung bei Streitigkeiten über die Rechtmäßigkeit von Spezialisierungsvereinbarungen.
6. Spezialisierungsvereinbarungen
Spezialisierungsvereinbarungen können für Unternehmen erhebliche Vorteile bieten, indem sie Produktionskosten senken, Innovationen fördern und Markteintrittsbarrieren reduzieren. Die Spezialisierungs-GVO stellt sicher, dass solche Kooperationen nur dann zulässig sind, wenn sie keine wettbewerbswidrigen Absprachen enthalten.
Kartellrechtler spielen eine zentrale Rolle bei der rechtlichen Prüfung solcher Kooperationen, der Verteidigung in Kartellverfahren und der Durchsetzung oder Abwehr von Schadensersatzansprüchen. Unternehmen sollten frühzeitig rechtliche Beratung einholen, um Risiken zu minimieren und eine rechtssichere Gestaltung der Zusammenarbeit sicherzustellen.
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