Freigestellte Kooperationen (horizontale und vertikale Gruppenfreistellungsverordnungen)
Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern ("horizontale Vereinbarungen") sind grundsätzlich geneigt, eine wettbewerbsbeschränkende Wirkung zu entfalten und somit in Konflikt mit nationalem oder europäischem Wettbewerbsrecht zu stehen. Die GVO nehmen bestimmte Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen sowie Vereinbarungen betreffend Spezialisierung hinsichtlich der Produktion vom generellen Kartellverbot aus.
Die GVO setzten voraus, dass in ihrem Anwendungsbereich wettbewerbsbeschränkende Effekte durch positive Effekte aufgewogen bzw. überlagert werden.
Horizontale Vereinbarungen können erheblichen wirtschaftlichen Nutzen bringen, vor allem wenn sie komplementäre Tätigkeiten, Fähigkeiten oder Vermögenswerte zusammenführen. Horizontale Zusammenarbeit kann ein Mittel sein, Risiken zu teilen, Kosten zu sparen, Investitionen zu steigern, Know- how zu bündeln, die Produktqualität und -vielfalt zu verbessern und Innovation zu beschleunigen.
Horizontale Vereinbarungen können aber auch zu Wettbewerbsproblemen führen. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn die Parteien vereinbaren, Preise oder Produktionsmengen festzulegen oder Märkte aufzuteilen, oder wenn die Zusammenarbeit die Parteien in die Lage versetzt, Marktmacht zu behalten, zu erlangen oder auszubauen, und sie sich dadurch wahrscheinlich in Bezug auf Preise, Produktionsmenge, Innovation oder Produktvielfalt und -qualität negativ auf den Markt auswirken wird.
Übliche Formen von horizontalen Vereinbarungen sind Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen, Produktionsvereinbarungen einschließlich Zuliefer- und Spezialisierungsvereinbarungen, Einkaufsvereinbarungen, Vermarktungsvereinbarungen, Normenvereinbarungen einschließlich Standardbedingungen und Informationsaustausch. Wirtschaftliche Kriterien wie die Marktmacht der Parteien und andere Merkmale der Marktstruktur sind zentrale Elemente in der Ermittlung der voraussichtlichen Auswirkungen einer horizontalen Vereinbarung und damit für die Prüfung nach Artikel 101 AEUV.
Freigestellt vom Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen sind insbesondere zahlreiche Kooperationen von Unternehmen. Kooperationen fördern den Wettbewerb, wenn die beteiligten Unternehmen erst durch die Kooperation in die Lage versetzt werden, in den Wettbewerb einzutreten oder im Wettbewerb zu bestehen, oder wenn sie ihre Kräfte zur Abwehr marktbeherrschender Stellungen auf den vor- oder nachgelagerten Märkten bündeln.
Oft entscheidet der Marktanteil der beteiligten Unternehmen darüber, ob eine Wettbewerbsbeschränkung im Rahmen einer Kooperation zulässig ist. Beispiele für Kooperationen, die freigestellt sein können, sind z. B. bestimmte Einkaufs- und Vertriebskooperationen, Mittelstandskartelle, Spezialisierungskartelle oder Forschungskooperationen.
Die sogenannten Hardcore-Vereinbarungen können allerdings grundsätzlich nicht vom Kartellverbot freigestellt werden, auch wenn sie etwa aus Sicht der beteiligten Unternehmen zu einer Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung führen.
Freigestellte Kooperationen nach den Gruppenfreistellungsverordnungen (GVO
Unternehmen können in bestimmten Fällen von den strengen kartellrechtlichen Verboten ausgenommen werden, wenn ihre Kooperationen durch Gruppenfreistellungsverordnungen (GVO) gedeckt sind. Diese Verordnungen legen fest, unter welchen Bedingungen Kooperationen zulässig sind und wann sie dennoch kartellrechtswidrig bleiben.
1. Wann sind Kooperationen kartellrechtswidrig trotz GVO?
1.1. Grundprinzip der Gruppenfreistellung
GVO basieren auf Artikel 101 Abs. 3 AEUV, der wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt. Allerdings sind Kooperationen trotz einer möglichen Freistellung dennoch unzulässig, wenn sie:
- die Wettbewerbsbeschränkung über das notwendige Maß hinaus ausweiten,
- in Kernbeschränkungen („hardcore restrictions“) münden,
- zu Marktabschottungen führen oder
- den Verbrauchern keine angemessenen Vorteile bieten.
1.2. Typische Fälle kartellrechtswidriger Kooperationen trotz GVO
Missbrauch von Marktstellung bei Einkaufs- oder Vertriebskooperationen
- Beispiel: Mehrere große Einzelhändler bilden eine Einkaufsgemeinschaft und erzwingen durch ihre Marktmacht unfaire Einkaufsbedingungen für Lieferanten.
- Urteil:EuGH, C-74/14 – Eturas → Wettbewerbsverstöße durch abgestimmte Preisänderungen in einer Plattform.
Preis- und Gebietsabsprachen trotz GVO
- Horizontale oder vertikale Preisabsprachen sind in der Regel ausgeschlossen.
- Beispiel: Zwei Pharmaunternehmen koordinieren ihre Vertriebspreise für generische Medikamente, obwohl sie eine Forschungskooperation vereinbart haben.
- Urteil:EuGH, C-230/16 – Hoffmann-La Roche → Wettbewerbswidrige Gebietsaufteilung und Preismanipulation.
Unzulässige Austausch sensibler Wettbewerbsinformationen
- Beispiel: Zwei Automobilhersteller arbeiten in der Entwicklung zusammen, tauschen aber gleichzeitig Informationen über zukünftige Preisstrategien aus.
- Urteil:EuG, T-799/17 – BMW/Daimler/VW (Diesel-Kartell) → Kartellrechtswidrige Abstimmungen über Abgasreinigungstechnologien.
Wettbewerbsbeschränkung ohne Effizienzgewinne
- Eine Kooperation muss nach Art. 101 Abs. 3 AEUV auch wirtschaftliche Vorteile bieten.
- Beispiel: Zwei Speditionsunternehmen vereinbaren eine gemeinsame Routenplanung, um Kosten zu sparen, verhindern aber gleichzeitig neue Marktteilnehmer durch exklusive Vereinbarungen.
- Urteil:EuGH, C-209/10 – Post Danmark → Missbrauch marktbeherrschender Stellung trotz betriebswirtschaftlicher Begründung.
2. Wann sind Kooperationen zulässig und von der GVO freigestellt?
2.1. Geltende Gruppenfreistellungsverordnungen (GVO)
Es gibt mehrere relevante GVO, die bestimmte Kooperationen unter Bedingungen zulassen:
GVO
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Gegenstand
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Beispiel
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Vertikal-GVO (2022/720)
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Zulässige Vertriebsbindungen und Exklusivvereinbarungen
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Hersteller kann selektive Vertriebspartner wählen, solange kein Preiszwang besteht.
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F&E-GVO (1217/2010)
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Forschungs- und Entwicklungskooperationen
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Zwei Pharmaunternehmen entwickeln gemeinsam einen Impfstoff, teilen aber keine Vertriebsgebiete auf.
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Spezialisierungs-GVO (1218/2010)
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Arbeitsteilung in der Produktion
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Zwei Automobilhersteller spezialisieren sich auf verschiedene Bauteile zur Effizienzsteigerung.
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Kfz-GVO (461/2010)
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Kfz-Vertrieb und -Reparatur
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Autohersteller dürfen selektive Vertriebssysteme nutzen, aber keine Preisbindungen vorgeben.
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Technologietransfer-GVO (316/2014)
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Lizenzvereinbarungen für Technologie
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Patentinhaber gewährt einem anderen Unternehmen eine Lizenz, ohne Wettbewerber auszuschließen.
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2.2. Zulässige Formen der Kooperation
Forschungs- und Entwicklungskooperationen
- Erlaubt, wenn: Beide Parteien zur Innovation beitragen, Zugang zu Ergebnissen gewährt wird und keine Marktaufteilung erfolgt.
- Beispiel:Siemens und Bosch entwickeln gemeinsam neue Brennstoffzellentechnologien, ohne Vertriebspreise abzusprechen.
Einkaufskooperationen
- Erlaubt, wenn: Wettbewerb zwischen den Partnern erhalten bleibt und keine marktabschottenden Effekte entstehen.
- Beispiel:Kleine Einzelhändler bündeln ihren Einkauf, um bessere Konditionen zu erhalten, ohne den Wettbewerb zu verzerren.
Vertriebskooperationen
- Erlaubt, wenn: Sie den Wettbewerb nicht einschränken oder Exklusivitätsklauseln enthalten.
- Beispiel:Daimler und BMW bündeln ihren Carsharing-Service, ohne Preisabsprachen zu treffen.
Technologietransfer und Lizenzverträge
- Erlaubt, wenn: Lizenzen nicht missbraucht werden, um Marktteilnehmer auszuschließen.
- Beispiel:Microsoft lizenziert ein Betriebssystem an Hardwarehersteller ohne Exklusivitätsklausel.
3. Was können Kartellrechtler tun?
3.1. Präventive Beratung und Compliance
- Unternehmen beraten, ob eine Kooperation unter eine GVO fällt.
- Frühzeitige Risikoanalyse durchführen, um Wettbewerbsverstöße zu vermeiden.
- Schulungen für Mitarbeiter zu kartellrechtlichen Fallstricken anbieten.
3.2. Kartellrechtliche Prüfungen und Freistellungsanträge
- Analyse, ob eine Kooperation eine Ausnahme nach Art. 101 Abs. 3 AEUV rechtfertigt.
- Beantragung einer Einzelfreistellung bei der Europäischen Kommission oder dem Bundeskartellamt.
3.3. Vertretung bei Kartellverfahren
- Unternehmen in Kartellverfahren verteidigen und mit der Behörde kooperieren.
- Leniency-Anträge (Kronzeugenregelung) vorbereiten, um Bußgelder zu reduzieren.
- Schadensersatzklagen von geschädigten Parteien abwehren oder durchsetzen.
3.4. Litigation und Durchsetzung von Ansprüchen
- Unternehmen, die durch Kartelle geschädigt wurden, können Schadenersatz einklagen.
- Prozessführung gegen Wettbewerber oder Behörden bei kartellrechtlichen Streitigkeiten.
4. Gruppenfreistellungsverordnungen
Kooperationen zwischen Unternehmen können unter bestimmten Voraussetzungen von den kartellrechtlichen Verboten ausgenommen werden, solange sie den Wettbewerb nicht unangemessen beschränken. Die Gruppenfreistellungsverordnungen bieten einen klaren Rahmen, setzen aber strikte Bedingungen, insbesondere zum Schutz des Wettbewerbs und der Verbraucher.Kartellrechtler können Unternehmen dabei unterstützen, legale Kooperationen zu gestalten, Risiken zu minimieren und sich in Kartellverfahren effektiv zu verteidigen.
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