EU-Kartellrecht
In Deutschland ist ohne Auslandsberührung das deutsche Kartellrecht mit seinen Landeskartellbehörden und dem Bundeskartellamt ebenso zu beachten, wie das EU-Kartellrecht mit seiner Wettbewerbskommision der EU-Kommission. In Deutschland tätige Unternehmer müssen mithin das deutsche Kartellrecht als auch das EU-Kartellrecht beachten. Das EU-Kartellrecht wird von der Europäischen Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten durchgesetzt. Der deutsche Gesetzgeber hat das deutsche Kartellrecht, das im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) geregelt ist, weitgehend an die Regelungen des EU-Kartellrechts angeglichen. Für Unternehmen vorrangig entscheidend sind insofern das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen (§ 1 GWB; Art. 101 AEUV, ex-Art. 81 EG) und das Missbrauchsverbot (§§ 19 ff. GWB; Art. 102 AEUV, ex-Art. 82 EG).
Vertikal-GVO 2010 und Vertikal-Leitlinien 2010
In der bisherigen Vertikal-GVO, auch „Schirm-GVO“ genannt, waren 1999 mehrere sektorspezifische Gruppenfreistellungsverordnungen aus dem Vertriebsbereich zusammengefasst worden. Sie enthielt eine kartellrechtliche Freistellung für Liefer- und Vertriebsvereinbarungen, sofern die Vereinbarung keine sog. Kernbeschränkungen enthielt, die beteiligten Unternehmen bestimmte Marktanteilsschwellen nicht überschritten und grundsätzlich nicht in Wettbewerb miteinander standen, wobei von letzterem Punkt in bestimmten Konstellationen Ausnahmen gemacht wurden.
Die Kommission war der Ansicht, dass sich die bisherige Vertikal-GVO grundsätzlich bewährt habe, dass man aber in der neuen GVO den Marktentwicklungen Rechnung tragen müsse. Damit meinte sie insbesondere die gewachsene Nachfragemacht großer Einzelhandelsunternehmen gegenüber den Herstellern und die angestiegene Bedeutung des Online-Handels.
Marktanteilsschwellen
Die Nachfragemacht des Handels wird nunmehr dadurch berücksichtigt, dass zusätzlich zu der Marktanteilsschwelle des Anbieters eine weitere Marktanteilsschwelle des Abnehmers eingeführt wurde. Hierdurch können künftig Fälle aus dem Anwendungsbereich der Vertikal-GVO ausscheiden, bei denen marktstarke Abnehmer schwachen Lieferanten gegenüberstehen. Solche Konstellationen finden sich häufig in der Zulieferbrache und im Einzelhandel. Nach der neuen Vertikal-GVO gelten vertikale Vereinbarungen nur noch dann als unbedenklich, wenn der Lieferant und der Abnehmer jeweils einen Marktanteil von 30 % nicht überschreiten und keine sog. Kernbeschränkungen vorliegen. Die Einführung dieser zweiten Marktanteilsschwelle macht die wettbewerbliche Beurteilung für das einzelne Unternehmen schwieriger als zuvor, da künftig nicht mehr nur der eigene Marktanteil, sondern auch der des Handelspartners im Auge behalten werden muss.
Online-Handel
Auch nach der neuen Vertikal-GVO sind selektive Vertriebssysteme, d.h. die mit einem Ausschließlichkeitsrecht verbundenen Zuweisungen eines Gebiets und einer Kundengruppe an einen bestimmten Händler, grundsätzlich erlaubt. Während eine Einschränkung des „aktiven“ Verkaufs bei der Einhaltung der Voraussetzungen der Vertikal-GVO grundsätzlich zulässig ist, ist jegliche Beschränkung des sog. „passiven“ Verkaufs, d.h. die Erledigung unaufgeforderter Bestellungen einzelner Kunden, verboten. Dies hat insbesondere Auswirkungen auf den Internethandel.
Die Nutzung des Internets durch Händler und das Anbieten von Produkten auf der eigenen Webseite wird in der Regel als „passiver“ Verkauf angesehen und darf daher grundsätzlich nicht beschränkt werden. Dies gilt auch, wenn hierdurch Lieferungen in Gebiete oder an Kundengruppen erforderlich sind, die anderen Händlern ausschließlich zugewiesen sind. Unter diese Problematik fallen z.B. die von deutschen Gerichten unterschiedlich beurteilten Fälle, in denen Markenhersteller ihren Händlern verbieten, ihre Markenprodukte im Internet anzubieten.
Die Kommission hält folgende Beschränkungen des passiven Online-Vertriebs für unzulässig:
- wenn von Händlern verlangt wird zu verhindern, dass Kunden aus einem anderen Alleinvertriebsgebiet ihre Website einsehen können, oder wenn eine automatische Umleitung von der Händlerwebsite auf die Website des Herstellers oder eines anderen Händlers verlangt wird,
- wenn von Händlern verlangt wird, Internet-Transaktionen abzubrechen, wenn sich erkennen lässt (z.B. anhand der Kreditkarte mit Adresse), dass der Kunde nicht im Alleinvertriebsgebiet des Händlers seinen Sitz hat,
- wenn von einem Händler eine Begrenzung des Anteils der über das Internet getätigten Verkäufe an den Gesamtverkäufen verlangt wird,
- wenn von einem Händler für Produkte, die er im Internet weiterverkaufen will, höhere Preise als für die gleichen stationär vertriebenen Produkte verlangt werden.
Besondere Qualitätsanforderungen an den Online-Vertrieb dürfen allerdings gestellt werden, z.B. dass der Händler über ein Geschäft oder einen Ausstellungsraum verfügen muss, bevor er mit dem Online-Vertrieb des jeweiligen Produkts beginnt. Die Qualitätsanforderungen müssen jedoch mit denen, die für ein stationäres Geschäft gefordert werden, gleichwertig sein.
Diese Einschränkungen finden jedoch keine Anwendung auf den „aktiven“ Verkauf. Von einem aktiven Verkauf über das Internet ist z.B. auszugehen, wenn einzelne Kunden mit E-Mails oder Online-Werbung gezielt angesprochen werden. Ein solches Verhalten ist grundsätzlich durch vertikale Vereinbarungen einschränkbar.
Bundeskartellamt prüft grenzüberschreitende Fälle des Kartellrechts (Anwendbarkeit des deutschen oder des EU-Kartellrechts)
Eine der vielen Neuerungen durch die VO 1/2003 ist, dass das Verfahren dezentralisiert wird. Das heißt, dass das Bundeskartellamt in Deutschland prüfen muss, ob es das deutsche GWB oder das europäische Wettbewerbsrecht anwenden muss. Wenn es sich um einen Fall mit grenzüberschreitender Bedeutung handelt, wird also nicht automatisch nur noch die EU-Kommission zuständig sein, sondern das deutsche Bundeskartellamt muss die EU-Regelungen selbst anwenden. Nicht nur die Kartellbehörden, sondern auch die nationalen Gerichte sollen künftig selbst nach EU-Kartellrecht entscheiden. Um trotzdem eine europaweit einheitliche Anwendung des EU-Rechts durch die nationalen Wettbewerbsbehörden sicherzustellen, ist bereits ein europäisches Netzwerk gegründet worden, dem alle nationalen Wettbewerbsbehörden angehören.
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