Lieferverweigerung
Was für marktmächtige (Handels-)Unternehmen gegenüber ihren Lieferanten gesagt wurde („Auslistung“), gilt auch umgekehrt für die Lieferverweigerung durch marktmächtige (marktbeherrschende und marktstarke) Lieferanten. Diese dürfen zwar ihre Kunden grundsätzlich frei wählen und auch hohe Preise und günstige Konditionen aushandeln. Sie dürfen ihre Forderungen aber nicht mit unlauteren Mitteln durchsetzen.
Eine Lieferverweigerung kann sachlich begründet sein, etwa durch die Entscheidung des Unternehmens, seine Produkte nur über ein bestimmtes Vertriebsnetz (selektiver Vertrieb) zu verkaufen.
Im Rahmen einer solchen Vertriebsentscheidung, die auch marktbeherrschende Unternehmen grundsätzlich frei treffen können, müssen aber alle in Betracht kommenden Abnehmer gleich behandelt werden.
Lieferverweigerungen im Kartellrecht
1. Einführung in die Lieferverweigerung
Die Lieferverweigerung (Refusal to Supply) bezeichnet den Fall, in dem ein marktbeherrschendes Unternehmen einem Abnehmer oder Konkurrenten den Zugang zu seinen Produkten oder Dienstleistungen verweigert. Eine Lieferverweigerung kann kartellrechtlich problematisch sein, wenn sie dazu dient, den Wettbewerb auszuschalten oder den Markteintritt von Konkurrenten zu verhindern.
1.1 Rechtsgrundlagen
- Deutschland: § 19 Abs. 2 Nr. 1 GWB (Missbrauchsaufsicht)
- EU: Art. 102 lit. b AEUV (Missbräuchliche Marktabschottung)
- Internationale Regelungen: In den USA ist die „Essential Facilities Doctrine“ ein relevantes Prinzip.
Gemäß diesen Vorschriften kann eine Lieferverweigerung dann kartellrechtswidrig sein, wenn das Unternehmen eine marktbeherrschende Stellung hat und die Verweigerung keinen objektiven Grund hat.
2. Arten der Lieferverweigerung
2.1 Absolute Lieferverweigerung
Das Unternehmen verweigert jegliche Belieferung eines Abnehmers oder Konkurrenten.
Beispiel: Commercial Solvents (EuGH, Rs. 6/73)
- Commercial Solvents war ein wichtiger Hersteller eines chemischen Zwischenprodukts für Antibiotika.
- Das Unternehmen weigerte sich, dieses Produkt an einen Konkurrenten zu liefern, um den Markt selbst zu dominieren.
- Der EuGH entschied, dass eine gezielte Lieferverweigerung durch ein marktbeherrschendes Unternehmen kartellrechtswidrig ist.
2.2 Diskriminierende Lieferverweigerung
Ein Unternehmen beliefert einige Kunden, verweigert aber bestimmten anderen Kunden die Lieferung, um den Wettbewerb zu beeinflussen.
Beispiel: United Brands (EuGH, Rs. 27/76)
- United Brands (Chiquita) stellte die Lieferung von Bananen an bestimmte Händler ein, die mit Konkurrenten arbeiteten.
- Der EuGH wertete dies als diskriminierende Lieferverweigerung, da sie den Markt abschottete.
2.3 Essential Facilities Doctrine (Verweigerung von Zugang zu essenziellen Ressourcen)
Eine besondere Form der Lieferverweigerung betrifft essenzielle Einrichtungen („Essential Facilities“). Wenn ein Unternehmen eine unverzichtbare Infrastruktur oder Ressource besitzt, muss es Konkurrenten Zugang gewähren.
Beispiel: IMS Health (EuGH, Rs. C-418/01)
- IMS Health weigerte sich, Wettbewerbern eine wesentliche Datenbankstruktur für den Pharmamarkt zur Verfügung zu stellen.
- Der EuGH entschied, dass dies eine missbräuchliche Lieferverweigerung war, weil keine Alternativen existierten.
Beispiel: Microsoft (EU-Kommission, 2004)
- Microsoft weigerte sich, technische Schnittstelleninformationen an Konkurrenten bereitzustellen.
- Die EU-Kommission verhängte eine Strafe von 497 Mio. € und verpflichtete Microsoft zur Offenlegung der Schnittstellen.
2.4 Strategische Lieferverweigerung zur Marktabschottung
Ein marktbeherrschendes Unternehmen nutzt die Verweigerung gezielt, um neue Marktteilnehmer zu behindern.
Beispiel: Aspen Pharma (EU-Kommission, 2021)
- Aspen verweigerte Lieferungen bestimmter Krebsmedikamente an Krankenhäuser, um höhere Preise durchzusetzen.
- Die EU-Kommission stellte fest, dass dies ein Missbrauch der Marktmacht war.
3. Wann ist eine Lieferverweigerung kartellrechtswidrig?
Nicht jede Lieferverweigerung ist verboten. Die Rechtsprechung stellt drei zentrale Kriterien auf:
Marktbeherrschende Stellung des verweigernden Unternehmens
- Das Unternehmen hat eine dominierende Marktstellung.
Keine sachliche oder wirtschaftliche Rechtfertigung
- Es gibt keine objektiven Gründe für die Verweigerung (z. B. Lieferengpässe, Vertragsbruch des Kunden).
Wettbewerbsverzerrende Wirkung
- Die Weigerung verhindert effektiven Wettbewerb oder schottet den Markt ab.
4. Lieferverweigerungen
Lieferverweigerungen sind ein wichtiges Instrument zur Marktregulierung, können aber missbräuchlich genutzt werden. Besonders im digitalen Bereich (z. B. Zugang zu Plattformen, APIs, Datenbanken) wird die Missbrauchsaufsicht immer relevanter. Kartellbehörden prüfen genau, ob eine Lieferverweigerung dazu dient, Wettbewerber auszuschalten oder den Markteintritt zu verhindern.
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