Selektiver Vertrieb/ selektive Vertriebssysteme
In sog. selektiven Vertriebssystemen verpflichten sich Lieferant und Händler, die (vom Lieferanten zur Verfügung gestellten) Vertragswaren nur an Händler zu liefern, die bestimmte vom Lieferanten festgelegte Kriterien erfüllen. In selektiven Vertriebssystemen darf sich also der Lieferant verpflichten, in einem bestimmten Gebiet nur einen oder mehrere zugelassene Händler zu beliefern.
Im Regelfall umfasst ein selektives Vertriebssystem folgendes: Die Verpflichtung des Anbieters, die Vertragswaren oder -dienstleistungen unmittelbar oder mittelbar nur an Händler zu verkaufen, die anhand festgelegter (Qualitäts-)Merkmale wie z. B. Verkaufsfläche, Präsentation der Ware etc. ausgewählt werden, und gleichzeitig Verpflichtung der Händler, die betreffenden Waren oder Dienstleistungen nicht an dritte Händler zu verkaufen, die innerhalb des vom Anbieter für den Betrieb dieses Systems festgelegten Gebiets nicht zum Vertrieb zugelassen sind.
Dem Händler muss es aber freistehen, auch aktiv sämtliche Endkunden unabhängig von deren Geschäfts- oder Wohnsitz zu beliefern.
In selektiven Vertriebssystemen ist also sowohl die Beschränkung der aktiven als auch der passiven Vertriebstätigkeit des Händlers unzulässig.
Selektiver Vertrieb im Kartellrecht
1. Einführung: Was ist selektiver Vertrieb?
Der selektive Vertrieb ist ein Vertriebssystem, bei dem ein Hersteller seine Produkte nur über ausgewählte Händler verkauft. Diese Händler müssen bestimmte qualitative oder quantitative Anforderungen erfüllen, um in das Vertriebsnetz aufgenommen zu werden.
1.1. Arten des selektiven Vertriebs
Qualitativer selektiver Vertrieb
- Der Hersteller wählt Händler anhand objektiver Kriterien aus (z. B. Fachkenntnisse, Servicequalität, Ausstattung).
- Beispiel: Ein Luxusuhrenhersteller verlangt von Händlern, ein bestimmtes Ladengeschäft mit Premium-Interieur zu führen.
Quantitativer selektiver Vertrieb
- Der Hersteller begrenzt die Anzahl der Händler (z. B. durch Verkaufsquoten oder geographische Beschränkungen).
- Beispiel: Ein Sportwagenhersteller erlaubt nur 50 Händlern pro Land, seine Fahrzeuge zu vertreiben.
Der selektive Vertrieb kann sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf den Wettbewerb haben. Er ist kartellrechtlich zulässig, solange er den Wettbewerb nicht übermäßig beschränkt.
Rechtliche Grundlage:
- Artikel 101 Abs. 1 AEUV und § 1 GWB verbieten wettbewerbsbeschränkende Absprachen.
- Vertikal-GVO (2022/720) regelt, unter welchen Bedingungen selektive Vertriebssysteme freigestellt sind.
- Artikel 101 Abs. 3 AEUV ermöglicht eine Freistellung bei nachgewiesenen Effizienzvorteilen.
2. Wann ist selektiver Vertrieb kartellrechtswidrig?
2.1. Wettbewerbswidrige Formen des selektiven Vertriebs
Missbräuchliche Händlerbeschränkungen
- Hersteller schließen Händler aus, ohne objektive Kriterien.
- Beispiel: Ein Elektronikhersteller vertreibt seine Produkte nur über eine Handelskette und verweigert anderen Händlern ohne Begründung den Zugang.
Verbot des Online-Vertriebs ohne sachlichen Grund
- Händler dürfen nicht daran gehindert werden, Produkte über das Internet zu verkaufen.
- Beispiel: Ein Parfümhersteller verbietet seinen Händlern, die Produkte auf Online-Marktplätzen wie Amazon zu verkaufen.
Verpflichtung zur Preisbindung im selektiven Vertrieb
- Händler müssen vorgeschriebene Preise einhalten.
- Beispiel: Ein Luxusmodenhersteller erlaubt nur Händlern den Vertrieb, die eine bestimmte Mindestpreispolitik befolgen.
2.2. Ausnahmefälle: Wann ist selektiver Vertrieb zulässig?
Qualitative Anforderungen zur Wahrung der Markenidentität
- Hersteller können Mindeststandards für den Verkauf setzen.
- Beispiel: Ein Automobilhersteller verlangt von seinen Händlern ein bestimmtes Serviceniveau und eine einheitliche Markenpräsentation.
Schutz vor Markenimage-Verlust im Online-Handel
- Hersteller dürfen den Verkauf über Drittplattformen untersagen, wenn dies das Markenimage gefährdet.
- Beispiel: Ein Luxusuhrenhersteller verbietet den Verkauf über eBay, da dort Fälschungen verbreitet werden könnten.
Begrenzung der Händleranzahl bei komplexen Produkten
- Hersteller dürfen die Anzahl der Händler begrenzen, wenn technische Beratung notwendig ist.
- Beispiel: Ein Hersteller von High-End-Medizinprodukten erlaubt nur zertifizierten Fachhändlern den Vertrieb.
3. Wichtige Urteile zum selektiven Vertrieb
3.1. Kartellrechtswidrige Fälle
EuGH, Rs. C-439/09 – "Pierre Fabre" (Online-Vertriebsverbot für Kosmetika)
- Sachverhalt: Ein Kosmetikhersteller verbot seinen Händlern den Verkauf über das Internet.
- Ergebnis: Wettbewerbswidrig, da Online-Vertriebsverbote den Wettbewerb einschränken.
BGH, KZR 3/14 – "Asics-Urteil" (Verbot von Preisvergleichsportalen)
- Sachverhalt: Asics untersagte seinen Händlern den Verkauf über Preisvergleichsportale.
- Ergebnis: Verboten, da es den Online-Wettbewerb einschränkte.
BKartA, B3-137/16 – "Nike/Amazon" (Vertriebsverbot auf Marktplätzen)
- Sachverhalt: Nike untersagte autorisierten Händlern, Produkte auf Amazon anzubieten.
- Ergebnis: Verboten, da es Online-Wettbewerber diskriminierte.
3.2. Zulässige Fälle von selektivem Vertrieb
EuGH, Rs. C-230/16 – "Coty" (Luxusvertrieb über Online-Kanäle)
- Sachverhalt: Coty verbot den Verkauf von Luxusparfüms über Amazon.
- Ergebnis: Zulässig, da der Schutz des Markenimages ein legitimes Interesse ist.
BKartA – "Autohersteller-Urteil" (Selektiver Vertrieb bei Kfz-Händlern)
- Sachverhalt: Ein Premium-Autohersteller verlangte von seinen Händlern spezielle Schulungen und Showrooms.
- Ergebnis: Zulässig, da es den Qualitätsstandard sicherte.
4. Was können Kartellrechtler tun?
4.1. Prüfung der Rechtmäßigkeit von selektiven Vertriebssystemen
- Analyse, ob ein selektives Vertriebssystem kartellrechtskonform ist oder eine Marktabschottung darstellt.
- Beratung zu alternativen Vertriebskonzepten, um rechtliche Risiken zu minimieren.
4.2. Compliance-Beratung für Unternehmen
- Entwicklung von internen Richtlinien für den selektiven Vertrieb.
- Schulungen für Vertriebsteams, um unzulässige Beschränkungen zu vermeiden.
4.3. Vertretung in Kartellverfahren
- Verteidigung von Unternehmen bei Untersuchungen durch die EU-Kommission oder das Bundeskartellamt.
- Verhandlungen über Kronzeugenregelungen, um Bußgelder zu reduzieren.
4.4. Unterstützung bei Schadensersatzklagen
- Vertretung geschädigter Händler, die unrechtmäßig vom Vertrieb ausgeschlossen wurden.
- Abwehr von überhöhten Forderungen in Kartellverfahren.
5. Selektive Vertriebssysteme
Selektive Vertriebssysteme sind wettbewerbsrechtlich zulässig, solange sie auf objektiven und verhältnismäßigen Kriterien beruhen. Sie werden jedoch problematisch, wenn sie den Markt abschotten oder Online-Vertriebskanäle ohne sachlichen Grund einschränken.
Kartellrechtler spielen eine zentrale Rolle bei der Prüfung, Gestaltung und Verteidigung von selektiven Vertriebssystemen. Eine frühzeitige rechtliche Beratung hilft, hohe Bußgelder, Schadensersatzforderungen und Reputationsverluste zu vermeiden.
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